Leseprobe HORSEMAN 04/2023

Der Rumpfträger des Pferdes – Teil der Biotensegrität
Ein Konzept, um den Pferdekörper und das Training besser zu verstehen.
Eine Artikelserie von Thies Böttcher.
Der Begriff Biotensegrität (engl. biotensegrity) geistert seit einiger Zeit durch die Reiterwelt. Nicht zuletzt in Form eines biotensegralen Trainings. Es finden sich unterschiedliche Definitionen und Trainingsansätze, was nicht selten zu Streit führt und für Verwirrung sorgt. Es ist Zeit, der Idee der Tensegrität unaufgeregt auf den Grund zu gehen. Das Konzept der Tensegrität kann enorm helfen, den (Pferde-) Körper besser zu verstehen und das eigene Training zu optimieren. Vielleicht hilft es euch auch, alte Denkmuster zu durchbrechen und Abschied von schädlichen Trainingsideen zu nehmen.

Eine wichtige Information gleich zu Beginn. Es gibt keine allgemeingültige und verbindliche Definition des Begriffs. Insofern seid hellhörig, wenn jemand den Anspruch erhebt im alleinigen richtigen Wissen zu sein.

Bevor wir aber die Begrifflichkeiten der Biotensegrität aufnehmen und Euch, wie das System dahinter vorstellen, möchten wir den Einstieg über ein wichtiges Thema finden, das im HORSEMAN auch schon immer Bestandteil der Trainingstipps ist: den Trageapparat des Pferdes.

Über die Anatomie und Funktion des Rumpfträgers:

Das Tragesystem des Rumpfes ist in den Köpfen der Reiter angekommen. Gefühlt hat nun jedes Pferd mit Problemen eine Rumpftrageschwäche und die Anzahl an Tipps ist kaum noch zu zählen. Es wird Zeit, diese interessante Struktur einem Faktencheck zu unterwerfen.

Die Funktion der Rumpfträger:

Vereinfacht ausgedrückt bezeichnet man als Rumpfträger alle Strukturen, welche den Korpus des Pferdes zwischen den Vorderbeinen aufhängt, da eine knöcherne Verbindung fehlt. Das tensegrale System kommt hier deutlich zum Vorschein. Passiv dient das System der Pufferung der entstehenden Kräfte, wenn das Gewicht des Pferdes auf dem Boden aufkommt (Masse* Beschleunigung).

Aktiv kann das Pferd mit den zugehörigen Muskeln den Rumpf zwischen den Beinen in alle möglichen Richtungen verschieben. Ein gesunder Rumpfträger ist also Grundvoraussetzung für die Gesundheit des Pferdes und zeigt gleichzeitig deutlich, dass es aus anatomischer Sicht nicht notwendig ist, die Vorhand „leichter“ zu machen, um diese zu entlasten. Diese Überlegungen kommen -wie in den Vorartikel erwähnt- aus der Zeit VOR dem Wissen um die Biotensegrität.

Auswirkungen der Dysfunktionalität:

Die Auswirkungen eines pathologischen Rumpfträgers sind schon recht dramatisch. Am häufigsten treffen wir dabei auf die ein- oder beidseitige Fixierung. Das Federn des Rumpfes ist stark eingeschränkt. Da die Kraft aus dem Bodenkontakt trotzdem vorhanden ist, wird diese anders abgefangen. Die Eigenmuskeln der Vorhand müssen die Kräfte aufnehmen, resultierende Sehnenschäden kennen wir alle.
Auch die Wirbelsäule kann mehr belastet sein, da sie dazu tendiert, sich unter Last nach unten zu verbiegen Eine mögliche Ursache für Kissing Spines. Weiterhin wird der Platz zwischen den Vorderbeinen enger. Wichtige Strukturen werden gequetscht, unter anderen ein Nervengeflecht, welches die Vorhand versorgt. Stolpern ist nur ein mögliches Anzeichen.

Ebenso wird die dreidimensionale Bewegung der Wirbelsäule ausgebremst und die Rückenbewegung kann nicht durch das Pferd laufen, in der Folge ändert sich die Hinterhandmotorik. Die Liste lässt sich verlängern, es soll an dieser Stelle aber mit den Aufzählungen genügen.

wichtige Strukturen des Rumpftragesystems:

Alle Muskeln, welche die Verbindung zwischen Vorhand und Rumpf herstellen, werden auch als Schultergürtelmuskeln bezeichnet. Wie bereits beschrieben, können die Muskeln – je nach Anordnung- den Rumpf zwischen den Vorderbeinen in unterschiedliche Richtungen bewegen, wenn die Beine am Boden sind. In der Hangphase hingegen wird das Bein bewegt.

Am bekanntesten ist sicherlich die Rumpfportion des serratus ventralis. Auf ihn wird im Verlauf noch näher eingegangen. Fast interessanter sind jedoch 2 Faszienstrukturen, die außen und innen an ihm entlanglaufen. Sie sind die eigentlichen Systeme, welche passiv den Rumpf beim Aufkommen stützen und die Energie wieder abgeben. Der Muskel selbst liefert nur Zusatzenergie und kann nicht den Hub alleine liefern.

Lateral (außen, also zwischen Muskel und Schulterblatt) wird der Serratus ventralis p.th. (Abkürzung für die Brustportion) von einer Faszie überzogen, welche selbstständig am Schulterblatt ansetzt und „unten“ in die gelbe Bauchhaut übergeht. Eine perfekte elastische Schlinge, in die der Rumpf hineinfedern kann. Die Innenfläche des Muskels steht mit dem hochelastischen oberflächigen Anteil der Fascia spinocostotransversalis in Verbindung. Diese wird auch als lig. dorsoscapuare bezeichnet.

Ein dauerhaft verspannter Serratus kann demnach das Einfedern eher behindern. ER sollte nur beim Hochfedern des Rumpfes eine kurze Kontraktion ausführen, um den Schwung zu unterstützen.

Weiter interessant sind die Schultergürtelmuskeln, welche das Schulterblatt eher nach oben ziehen bzw. den Rumpf nach unten. Dies sind die Rhomboiden, die Trapezmuskeln als auch der breite Rückenmuskel (Latissimus dorsi), welcher in der sog. funktionalen Kette über den Rücken zieht und sich mit dem diagonalen Hinterbein verbindet. Diese Strukturen werden in Dehnspannung gebracht, wenn das Serratus-System anspringt. Anders ausgedrückt: Sind diese Muskeln verspannt, so arbeitet der Serratus nicht korrekt.

Als letztes möchte ich noch die 4 Brustmuskeln ansprechen. Sie fixieren den Oberarm am Rumpf, können diesen somit von unten stützen und verhindern gleichzeitig, dass der Rumpf sich zu weit vorschiebt. Dies ist auch der Grund, warum die Muskeln in Dauerspannung kommen, wenn das Pferd rückständig nach vorne gelehnt ist. Pferde, die sich über diese Muskeln stabilisieren wirken in der Brust sehr schmal und haben ein Problem, das Bein weiterzubewegen, wenn zu viel Last auf das Bein kommt. Sie stocken zum Beispiel mit dem inneren Vorderbein in engen Wendungen. Weitere Muskeln werden hier nicht aufgezählt, damit der Artikel nicht zu lang wird.

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Begriffe & Bezeichnungen
Zunächst widmen wir uns in dieser Ausgabe zwei Begriffen, die uns zwar immer wieder im Pferdealltag und Training begegnen, die aber auch in der Skala der Ausbildung vorkommen. Wir widmen uns aber auch einem Begriff bzw. einem Satz den (fast) alle Reiter schon einmal gehört haben und dem Reitmeister dahinter. Vorwärts und Geraderichten sind dabei die zwei Begriffe und Steinbrecht der Mensch dahinter um die es geht.

Takt

„Der geht taktunrein“ hört man immer wieder und für viele Reiter ist der schmale Grad zwischen einem unreinen Takt und einer beginnenden Lahmheit kaum zu unterscheiden. Das liegt sicher daran, dass nicht jeder den Begriff Takt wirklich definieren kann.

Der Takt ist das räumliche und zeitliche Gleichmaß in der Bewegungsfolge. Das bedeutet, jeder Schritt des Pferdes ist gleichgroß (Raumgriff) und hat die gleiche Dauer. Das heißt genau, dass jedes Bein bei einem Schritt die gleiche Strecke zurücklegt und dabei nicht verzögernd oder übereilt aufgesetzt wird. Der Schritt ist dabei ein Viertakt; der Trab ein Zweitakt und der Galopp ein Dreitakt.

Ist ein Pferd frei von Schmerzen oder Blockaden, läuft es frei fast immer taktrein. Unter dem Reiter werden das Gleichgewicht des Pferdes und damit auch der Takt nicht selten gestört. Das Pferd muss oftmals das Reitergewicht ausgleichen. Gerade junge Pferde sollten daher auch einmal die Möglichkeit haben, mit langem Hals (als Balancierstange) zu laufen. So fällt es dem Pferd leichter, die Balance und somit auch den Takt zu finden. Neben dem fehlenden Gleichgewicht des Reiters ist allerdings oft auch die Einwirkung der Hand, die die Balance und damit eben auch wieder den Takt stören kann. Hier kommt auch der Druck des Gebisses auf das Zungenbein mit ins Spiel, da dieses u.a. für das Gleichgewicht im Pferd zuständig ist. Darüber hinaus ist dieses Zungenbein auch mit der Biomechanik des ganzen Brust- und Vorderbeinbereichs verbunden. Auch auf einer gebogenen Linie, sprich Volten und Wendungen, sollte der Takt nicht verloren gehen. Wenn doch, stimmt das Gleichgewicht von Pferd und Reiter nicht oder die Einwirkung der Hand wirkt störend.

Schwung

Dies ist eine Begrifflichkeit aus der Skala der Ausbildung und betrifft alle Pferde. Leider wird gerade im Westernsport der Schwung vernachlässigt, obwohl er für das Pferd überaus wichtig ist. Neben Schubkraft entwickelt das Pferd auch bereits Tragkraft, wenn es in entsprechendem Tempo, losgelassen und dennoch mit Anlehnung geritten wird. Und beides ist u.a. für Manöver sehr wichtig.

Wirklichen Schwung kann das Pferd nur im Trab und im Galopp entwickeln, da der Schritt als Viertakt keine Schwebephase hat. Schwung ist die Kraftübertragung der Hinterhand in eine Vorwärts-Aufwärts-Bewegung, zu der es eine verstärkter Hankenbeugung (Untersetzen von Knie und Sprunggelenk) bedarf. Schwung hat aber nichts mit Schnell zu tun, obwohl das Tempo diesen Schwung stark beeinflusst. Ist man zu langsam, also unter dem Grundtempo des Pferdes, werden die Schritte/Sprünge meist zu kurz, es entsteht keine Hankenbeugung und damit auch kein Schwung. Ist das Tempo zu hoch, wird die Schlagzahl (Schrittfolge) erhöht, das Pferd tritt auch hier wieder kürzer und es entsteht der Nähmaschinen-Effekt.

“Reite dein Pferd vorwärts und richte es gerade.”

Dies ist sicherlich einer der bekanntesten Sätze, den wohl fast jeder deutsche Reitschüler aus dem Reitunterricht kennt. Es ist einer der bekanntesten Sätze von Gustav Steinbrecht. Doch bevor uns diesem Satz annehmen möchte ich Euch erst einmal den Mann dahinter vorstellen.

Den Reitmeister Gustav Steinbrecht (1808 – 1885) kann man Vater der deutschen Reitlehre betiteln. So wie Pluvinel die französische Reitkunst geprägt hat, war er maßgeblich an unserer heutigen Reitlehre beteiligt.

Wer war der Reitmeisters Gustav Steinbrecht?

Gustav Steinbrecht war der bekannteste Schüler von Louis Seeger. Seeger 1794 -1865) war ein deutscher Dressurreiter und studierte bei Maximilian Weyrother, an der Spanischen Hofreitschule in Wien, die Kunst der klassischen Dressur. Zu seiner Zeit war er geprägt von de la Guérinière, aber auch einer der größten Kritiker von François Baucher. Beide haben wir Euch in der Novemberausgabe vorgestellt. In Berlin gründete Seeger die erste private Reitschule Deutschlands, wo er sein Wissen auch an Gustav Steinbrecht weitergab und den jungen Steinbrecht auch von seinem eigentlichen Berufswunsch abbrachte, denn dieser wollte eigentlich Tierarzt werden. Nach seiner eigenen Ausbildung zum Berufsreiter leitete er eine Zeit lang die private Reitschule Seegers in Berlin Moabit. Im Jahre 1834 entschloss sich Steinbrecht, ein eigenes Institut in der Nähe von Magdeburg zu eröffnen, um dort Pferde überaus erfolgreich, bis zur hohen Schule auszubilden. Viele seiner ausgebildeten Pferde verkaufte er an Zirkusreiter, denn Steinbrecht (was nicht jeder weiß) beschäftigte sich ähnlich wie Baucher ebenfalls mit der Zirkusreiterei. Seine sehr fein ausgebildeten Pferde waren gefragt und er erlangte eine gewisse Berühmtheit.

Sein Werk “Das Gymnasium des Pferdes“ prägte unsere Reiterei wie kein anderes. Seine Erfahrungen ergaben die Grundlagen für die heutige “Bibel” der Reitlehrer – den “Richtlinien für Reiten und Fahren“. Diese gehen zurück auf die Heeresdienstvorschrift Nr. 12, in die Steinbrechts Werk zur Ausbildung von Kavalleristen eingeflossen ist. Seine Beschreibung zur Form uns Sitz des Reiters, zu Gymnastizierung des Pferdes und des Gesamtbilds Pferd-Reiter kann man getrost als wichtige Grundlage jeden guten Reitens betiteln. Dabei spielt der Reitstil keine Rolle – den gutes Reiten ist einfach gutes Reiten.

Bedeutung von “Reite dein Pferd vorwärts und richte es gerade.”

Im ersten Moment lässt dieser Satz sicherlich mehrere Interpretationen zu. Oftmals wird dieses Gerade und Vorwärts aber einfach nur mit schnellem an der Bande, mit einem vermeintlich geradegerichteten Pferd in Verbindung gebracht. Dies liegt sicher daran, dass zwar viele diesen Satz kennen aber das Buch nicht gelesen haben. Hier beschreibt er dies ganz klar.

„Unter dem Vorwärtstreiben verstehe ich nicht ein Vorwärtstreiben des Pferdes in möglichst eiligen und gestreckten Gangarten, sondern vielmehr die Sorge des Reiters, bei allen Übungen die Schubkraft der Hinterhand in Tätigkeit zu erhalten, dergestalt, dass nicht nur bei den Lektionen auf der Stelle, sondern sogar bei Rückwärtsbewegungen das Vorwärts, nämlich das Bestreben, die Last vorwärts zu bewegen, in Wirksamkeit bleibt. Ferner verstehe ich unter der geraden Richtung des Pferdes nicht seine völlig ungebogene auf die abzuschreitenden Linien, sondern dass es unter allen Umständen, selbst bei stärkster Biegung seines Körpers und in den Lektionen auf zwei Hufschlägen, mit seinen Vorderfüßen den Hinterfüßen vorschreitet, die ihrerseits wiederum jenen unbedingt folgen.“

Etwas vereinfacht bedeutet dies, dass das Pferd auch auf einer leicht gebogenen Linie geradeaus, mit der Hinterhand in die Spur der Vorhand abfußt, sprich auf zwei Hufspuren läuft. Dazu ist natürlich auch eine gewisse Rumpfbiegung notwendig. Es geht also wieder einmal um die „Spurtreue“ des Pferdes und natürlich um Hankenbiegung, also eine verstärkte Aktivität von Hüftgelenk, Knie und Sprunggelenk. Dieses Vorwärtstreten trainiert die Tragefähigkeit und vor allem auch die Balance des Pferdes. Das schnelle, an der Bande, Vorwärtsschicken ist meist davon aber weit entfernt. Nicht selten sieht man Pferde, die zwar im Halsbereich gerade scheinen, im Rumpf aber zur Innenseite tendieren und somit nicht selten schon fast auf 3 Hufschlägen (Hufspuren) galoppieren.

Vor gerade kommt gebogen

Um ein Pferd nun gerade zu richten, egal ob im Gesamten oder auf die Fußfolge (Hufspur) abgestimmt, muss man beide Seiten der Muskulatur gleich flexibel trainieren. Um das Pferd also aus seiner natürlichen Schiefe herauszuholen und es auf beiden Seiten geradezurichten zu können, ist die Gymnastizierung und damit die laterale Biegung die Basis um überhaupt nach dem Satz Steinbrechts zu reiten.

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